Juden in Hannover: Geschichte und Gegenwart
In Hannover gibt es drei Synagogen und ein jüdisches Zentrum der Bewegung Chabad Lubawitsch. Jüdisches Leben begann bereits im Mittelalter. Es konnte durch den Holocaust nicht vernichtet werden und lebte neu auf durch die zahlreichen Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion.
Am 30. Januar 1577 erlaubte der Stadtrat zwei neuen Einwohnern, in Hannover zu leben und Handel zu treiben. Phibus und Jobst Heilbot profitierten vom guten Ruf, den sich ihre Mutter und ihr Großvater in der Stadt erarbeitet hatten. Denn eigentlich galt für Juden, dass sie das Land der Welfen zu verlassen hatten. Doch der Rat der Stadt Hannover hatte seine Gründe, sich dem zu widersetzen: Nicht nur die „getreuen Dienste“ der Familie waren ein Argument. Auch war das eine willkommene Gelegenheit, dem ungeliebten Landesherrn die Stirn zu bieten - und nicht zuletzt fiel das stattliche „Schutzgeld“ ins Gewicht, das jüdische Einwohner zu zahlen hatten. Nur wohlhabende Juden hatten überhaupt eine Chance, in Hannover leben zu dürfen. Der Schutzbrief erlegte den Brüdern Heilbot auf, „offentlich kein ergernißen“ zu geben, „sondern in der stille nach judischem geprauche sich gehorsamblich“ zu zeigen. Immerhin: Das war kein ausdrückliches Verbot des jüdischen Gottesdienstes – solange er im Verborgenen stattfand.
Nur mit Schutzbrief geduldet: Hannovers Juden im Mittelalter
Die Brüder Heilbot waren viel unterwegs. Da der lokale Handel den christlichen Kaufleuten vorbehalten war, blieb den jüdischen Mitbewerbern nur, auf weiten und gefährlichen Handelsreisen Geschäfte anzubahnen. Im Königreich Polen fielen die Brüder Betrügern in die Hände. Das Familienunternehmen geriet in die Schieflage. Bestellte und bereits bezahlte Waren konnten sie nicht liefern. 1598 wurde Phibus in Schuldhaft genommen und schließlich vom Rat aus der Stadt gewiesen. Seine Gläubiger kamen ihm jedoch zu Hilfe: Sie appellierten erst an den Rat, dann an den Herzog, Phibus weiter in Hannover wohnen und ihn seine Schulden zurückzahlen zu lassen.
Doch inzwischen hatte sich in der Politik das Blatt gewendet: Mit der Reformation hatte sich die prekäre Lage der Juden weiter zugespitzt. Hatte Martin Luther zu Anfang noch gehofft, mit seinen Reformen auch sie vom Christentum überzeugen zu können, nahm er später offen antisemitische Positionen ein. Die lutherischen Pastoren der Kreuz- und Marktkirche prangerten die liberale Schutzbrief-Politik des Rates an, bis dieser einlenkte und 1588 alle Verträge und Handelsbeziehungen zwischen Juden und Christen untersagte. Jüdische Bewohner mussten die Stadt verlassen. Fünf Jahre lang blieb Phibus Heilbot im Ungewissen über sein Schicksal und schickte immer wieder Bittschreiben an Herzog Heinrich Julius. 1603 schließlich entschied dieser entnervt, Phibus dürfe bleiben: „Damit wir auf unserer fürstlichen Ratsstube von weiteren verdrießlichen Anlaufen verschont bleiben.“
Das Schicksal von Phibus Heilbot und seiner Familie ist nur eines von vielen, doch macht es die Umstände sichtbar, unter denen Juden in Hannover jahrhundertelang ihr Leben einrichten mussten: Entwürdigende Schutzbriefe erkaufen, mit der ganzen Existenz abhängen von Willkür, politischem Kalkül oder unverhohlenem Antisemitismus der Mächtigen. Seit dem Mittelalter ist jüdisches Leben in Hannover nachgewiesen. In einem Pfandregister von 1292 findet sich der erste Hinweis auf einen jüdischen Einwohner. 1350, als die Pest wütete, fanden christliche Bürger in der kleinen Gemeinde einen Sündenbock, dem sie die Katastrophe anlasteten. Es kam zum ersten von mehreren Pogromen in der Stadtgeschichte. Auch in den späteren Jahrhunderten folgen auf Ansiedlungen jüdischer Bewohner immer wieder Vertreibungen. „Offenbar wirkte sich die Spaltung der Christenheit für alle Konfessionen so aus, dass das Bedürfnis nach Stabilisierung der eigenen Identität mit einer scharfen Abgrenzung gegenüber allem Fremden und Anderen einherging“, schreibt der Hannoversche Autor Albert Marx in seiner „Geschichte der Juden in Niedersachsen“.
Auf Bildung gesetzt: Die jüdische Gemeinde vom Barock bis zur Industrialisierung
Vom 17. bis ins 19. Jahrhundert lebten keine jüdischen Familien mehr in der Altstadt. Aber in der Calenberger Neustadt auf der gegenüberliegenden Seite der Leine, die den welfischen Fürsten direkt unterstand, durften sie sich seit 1608 wieder ansiedeln. Großen wirtschaftlichen Einfluss erlangte der „Hoffaktor“ Leffmann Behrends, der den Welfen über vierzig Jahre lang mit seinem Unternehmergeist diente. Als Hoffaktoren bezeichnete man die Finanziers der Herrscherhäuser, deren Aufgabe es war, jederzeit Geld oder die gewünschten Luxusgüter für den Hof bereitzustellen. Leffmann Behrends sorgte dafür, dass 1704 „auf dem Berge“, in einer Querstraße der Roten Reihe, eine Synagoge eingeweiht wurde: in einem Hinterhof, unsichtbar von der Straße aus. Es war nicht die erste Synagoge Hannovers: An der gleichen Stelle stand schon einmal ein Gotteshaus, das 1613 zerstört worden war. Auf Behrends‘ Initiative hin richtete Herzog Ernst August 1687 das hannoversche „Landrabbinat“ ein. Der Landrabbiner entschied über innerjüdische Streitfälle.
Die florierenden Geschäfte der Hoffaktoren dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, wie viele Juden in Armut lebten: Am härtesten traf es die „Betteljuden“, die über keine Schutzbriefe verfügten. Sie zogen obdachlos über Land und waren auf die Wohltätigkeit der jüdischen Gemeinden angewiesen. Deren Hilfsbereitschaft war groß: Bereits 1762 gründete sich ein jüdischer Wohlfahrtsverein in Hannover, 1799 wurde eine Freischule für mittellose jüdische Kinder eröffnet.
In Preußen wurden die Juden bereits 1812 zu gleichberechtigten Staatsbürgern erklärt. Im Königreich Hannover allerdings mussten sie bis 1842 warten, bis ihnen vergleichbare Rechte eingeräumt wurden. „Gleich verachteten Sklaven“, wie es die hannoversche Gemeinde in einer Petition an den König in England beschrieb, musste sie bis dahin Schutzbriefe erkaufen. Ein Gesetz von 1848 sicherte schließlich jedem Einwohner „völlige Glaubens- und Gewissenfreiheit“ zu. Seit 1869 durften Juden ihren Wohnsitz frei wählen. Noch häufiger als die Christen zog es die jüdischen Bürger in die Städte, wo sie vom wirtschaftlichen Aufschwung profitieren konnten. Gleichzeitig trieben Armut und Pogrome viele Juden aus Russland und Galizien (heute in Polen und der Ukraine gelegen) zur Flucht nach Westen. Sie brachten eine strengere Glaubenspraxis und Lebensgewohnheiten nach Hannover, die viele einheimische Juden für überholt hielten. „Es gibt unter ihnen eine große Anzahl solcher, die noch niemals die Synagoge betreten haben, weil sie ihnen nicht koscher genug ist. Sie essen von dem Fleisch, das die Gemeindeschlachter feilhalten, nicht, haben ihre getrennte Mikwah und sie halten sich ihre eigenen ad hoc importierten Rabbiner“, mockierte sich damals ein liberal eingestelltes Gemeindemitglied über die Einwanderer.
Durch die Zuwanderung wuchs die Synagogengemeinde auf über 5100 Mitglieder im Jahr 1905 an. Etwa die Hälfte der Berufstätigen hielt am traditionellen Broterwerb ihrer Vorfahren im Handel fest. Rund zwanzig Prozent nutzen die Chancen, die die Industrialisierung ihnen bot. Siegmund Seligmann stieg vom Harburger Kaufmannslehrling zum Direktor der Continental-Gummiwerke auf und begründete die weltweite Expansion des hannoverschen Konzerns. Emil Berliner, ein Nachfahre bescheidener Losverkäufer aus der Calenberger Neustadt, wanderte in die USA aus und erfand das Mikrofon und die Schallplatte. Seine Brüder Jacob und Joseph gründeten die Berliner Telephonfabrik in der Nordstadt und die Deutsche Grammophon Gesellschaft an der Podbielskistraße.
Genau gegen den Trend zur Urbanität und Industrialisierung verwirklichte der Bankier Moritz Simon 1893 sein Projekt, die (erst später so genannte) Israelitische Gartenbauschule Ahlem. Er wollte jungen Juden gerade die Berufsfelder erschließen, die ihren Vorfahren jahrhundertelang verschlossen geblieben waren: Landwirtschaft, Gartenbau und Handwerk. Sein Wahlspruch ist auf dem Familiengrab auf dem jüdischen Friedhof An der Strangriede nachzulesen: „Nicht durch Almosen, sondern durch Erziehung zur Arbeit kann unseren armen Glaubensgenossen geholfen werden.“ Heute ist in der ehemaligen Gartenbauschule eine Gedenkstätte für die im Nationalsozialismus verfolgten Juden untergebracht.
Vielfalt unter einem Dach: Die jüdische Gemeinde im 19. Jahrhundert
Die einen setzten ihre Hoffnungen auf Reformen im hannoverschen Judentum auf ihn, für andere stellte er eine ungeliebte und kostspielige Kontrollinstanz dar: Die Aufgaben des Landrabbiners hatten sich jedenfalls im 19. Jahrhundert grundlegend gewandelt. Er kümmerte sich nun um die Qualität der Predigten und die Ausbildung der Lehrer, beaufsichtigte Gemeinden, Schulen und jüdische Stiftungen. In der „Allgemeinen Synagogenordnung für die Israeliten des hiesigen Land-Rabbiner-Bezirks“ verpflichtete Landrabbiner Nathan Adler 1832 die Gemeinden, „von Zeit zu Zeit“ eine Predigt in deutscher Sprache zu hören. Außerdem sei in den Synagogen für das Königshaus zu beten. Der Autor Albert Marx schätzt Adlers Synagogenordnung als „recht moderat“ ein, verglichen mit anderen jüdischen Reforminitiativen der Zeit, die sich noch stärker der christlichen Religionspraxis annäherten. Trotzdem waren orthodoxe Juden irritiert. 1876/77 konnte die Spaltung in eine orthodoxe und eine Reformgemeinde gerade noch abgewendet werden.
von Zeit zu Zeit eine Predigt in deutscher Sprache
Die aktive und selbstbewusste Gemeinde weihte 1870 ihre neue Synagoge an der Roten Reihe ein: in unmittelbarer Nähe des alten Lehrhauses, aber nicht mehr versteckt im Hof, sondern in einer Straßenfront mit der Neustädter Hof- und Stadtkirche. Die Gemeinde engagierte den bedeutendsten Architekten der Stadt: Edwin Oppler, den Erbauer der Marienburg. Der „deutsche Jude“, fand Oppler, müsse „im deutschen Staate auch im deutschen Style“ bauen. Er ließ sich unter anderem von den romanischen Domen in Mainz, Worms und Speyer inspirieren. Dabei nahm er eine Vorreiterrolle in Hannover ein: Später, um die Wende zum 20 Jahrhundert, wurden auch mehrere christliche Kirchen im neoromanischen Stil gebaut, zum Beispiel die katholische St. Elisabeth-Kirche in der Oststadt und die evangelische Bethlehemkirche in Linden-Nord.
1831 wurde im Königreich Hannover die Schulpflicht auch für jüdische Schüler eingeführt. Zwar eröffnete 1848 ein staatlich subventioniertes jüdisches Lehrerbildungsseminar, das bis 1924 bestand. Doch zogen die meisten hannoverschen Eltern einen Privatlehrer oder eine staatliche Schule der jüdischen Religionsschule vor, an der in der Anfangszeit noch jeden Tag fünf Stunden Religionsunterricht und nur eine Stunde „gemeinnützige Kenntnisse“ vermittelt wurden. Zur Eröffnung einer jüdischen Volksschule kam es erst 1935, als die Repressalien für jüdische Kinder an öffentlichen Schulen unerträglich wurden.
Die Zentralstelle für Wohlfahrtspflege in der Synagogengemeinde Hannover unterhielt im frühen 20. Jahrhundert ein Krankenhaus und ein Altenheim, einen Kinderhort, einen Kindergarten, mehrere Waisenhäuser und die „Notstands- und Mittelstandsküche“. Vereine zu gründen lag im Trend der Zeit, und die Vielfalt innerhalb der Einheitsgemeinde zeigte sich darin: Liberale und orthodoxe Gläubige organisierten sich, Zionisten warben – zum Befremden des Mainstreams in der Gemeinde - für jüdische Einwanderung nach Palästina, während der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens und der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten ihr Deutschtum betonten. Die aus Osteuropa Zugewanderten machten etwa 25 Prozent der Gläubigen aus. Sie fühlten sich durch die Regelung diskriminiert, dass man als Gemeindemitglied formell aufgenommen werden musste, um ein Stimmrecht zu erhalten. Doch der Einfluss wohlhabender deutsch-jüdischer Mitglieder hielt diese Barriere bis 1936 aufrecht.
Seit 1908 lehrte der Philosoph Theodor Lessing an der Universität Hannover. Er war ein Querdenker, der in keine theoretische Schublade passte, und haderte zeitlebens mit seiner jüdischen Identität. Er ätzte gegen assimilierte deutsche „Kulturjuden“, gegenüber den verarmten Ostjuden schwankte er zwischen Verachtung und Bewunderung. Gemeinsam mit seiner Frau Ada gründete er die Freie Volkshochschule Hannover-Linden, deren erste Leiterin Ada wurde. In den konservativen Kreisen Hannovers machte Lessing sich Feinde mit seiner Berichterstattung über den Prozess gegen den Serienmörder Fritz Haarmann: Er stellte den 24 nachgewiesenen Morden Haarmanns das Massensterben junger Männer im Ersten Weltkrieg gegenüber und gab der verrohten Nachkriegsgesellschaft eine Mitschuld an den Taten. Die antisemitischen Ausfälle gegen Lessing eskalierten, als er 1925 hellsichtig beschrieb, wie die Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten einer Diktatur den Weg ebnen würde. Deutschnationale Studenten störten und boykottierten daraufhin seine Vorlesungen, „Alte Herren“ veranstalteten eine Kundgebung zur „Abwehr undeutscher Anmaßung“. Das Kultusministerium gab dem Druck nach und beurlaubte Lessing dauerhaft „zu Forschungszwecken“. Nachdem die Nationalsozialisten ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt hatten, wurde er 1933 in Marienbad ermordet.
Selbsthilfe im Angesicht der Katastrophe
Mit der Machtübernahme der Nazis wurden die Juden in Hannover wie überall im Deutschen Reich zuerst ihrer wirtschaftlichen und sozialen Existenz beraubt und ab 1941 systematisch verschleppt und ermordet. Den Auftakt des Terrors bildete am 1. April 1933 der Boykott von Geschäften jüdischer Inhaber, den der „Kampfbund des gewerblichen Mittelstandes in Hannover“ gemeinsam mit der SA organisiert hatte. Am 10. Mai verbrannte der „Kampfausschuß der deutschen Studentenschaft gegen Schund und Schmutz“ an der Bismarcksäule, wo später der Maschsee ausgeschachtet wurde, Bücher jüdischer und anderer missliebiger Autoren. Die jüdische Gemeinde unterstützte ihre Mitglieder tatkräftig angesichts der Bedrohung: Die Gartenbauschule und die Bezirkszentralstelle für Wohlfahrtspflege boten jungen Juden, denen immer mehr Berufe verschlossen blieben, Umschulungen an. Die Beratungsstelle des Palästinaamtes half bei der Auswanderung. In der neu gegründeten jüdischen Volksschule konnten 84 Kinder in einem geschützten Rahmen lernen. Die Juden ohne deutschen Pass wurden endlich als gleichberechtigte Gemeindemitglieder aufgenommen. 1937, im vorletzten Jahr seiner Existenz, feierte man das 250. Jubiläum des Landrabbinates – eine Demonstration von Traditionsbewusstsein und Überlebenswillen, wie der Autor Albert Marx anmerkt.
17.000 polnische Juden wurden 1938 in einer Nacht- und Nebelaktion aus Deutschland abgeschoben, unter ihnen die Familie Grünspan, die 27 Jahre lang in Hannover gelebt hatte. Als der junge Herschel Grünspan in Paris von der Deportation seiner Eltern erfuhr, stürmte er in die deutsche Botschaft und erschoss den Legationsrat vom Rath. Damit hatte er den Nazis den Vorwand geliefert für den nächsten Schritt ihres Vernichtungsplans: In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten reichsweit Synagogen und jüdische Einrichtungen. In Hannover wurden 27 Wohnungen und 94 Geschäfte verwüstet, 316 Männer in „Schutzhaft“ genommen. Die Neue Synagoge brannte völlig aus. Jedes Jahr am 9. November lesen Schüler an der Gedenkstätte in der Roten Reihe aus den Erinnerungen von überlebenden hannoverschen Juden.
Die nächste Maßnahme, die die Deportationen vorbereitete, war das Zusammenpferchen der jüdischen Bevölkerung in vierzehn „Judenhäusern“. In der Predigthalle des jüdischen Friedhofs An der Strangriede mussten bis zu 150 Menschen bei klirrender Kälte, unter grauenvollen sanitären Bedingungen und ständigen Quälereien der Gestapo leben. Am 15. Dezember 1941 wurden rund eintausend Menschen ins Ghetto nach Riga deportiert. Acht weitere Transporte bis 1945 gingen nach Trawniki, Warschau, Theresienstadt und Ausschwitz. In der ehemaligen Gartenbauschule wurden die Festgenommenen inhaftiert. Am Güterbahnhof Linden-Fischerhof fuhren die Züge mit Viehwaggons voller Frauen, Männer und Kinder in die Vernichtungslager ab.
Neuanfang nach der Shoa
Als amerikanische Truppen in Hannover einmarschierten, fanden sie 27 jüdische Bürger vor, die die Shoa überlebt hatten. Zahlreiche von den Nazis verschleppte oder vor erneuten Pogromen in der Nachkriegszeit geflohene Juden aus Osteuropa verschlug es als „Displaced Persons“ nach Hannover. Die meisten von ihnen warteten auf eine Möglichkeit, nach Palästina weiterzuwandern. In der ehemaligen Gartenbauschule gründeten junge Juden ein Kibbuz namens „Zur Befreiung“, in dem sie zusammen arbeiteten, feierten und sich auf die Auswanderung vorbereiteten. Zu den hannoverschen Juden, die trotz der quälenden Erinnerungen zurückkehrten und die Gemeinde wieder aufbauten, gehörte auch Helmut Fürst, der Vater des heutigen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Hannover. Er hatte als Jugendlicher die Synagoge brennen sehen, wurde von der Gestapo gefoltert und musste Zwangsarbeit für eine Baufirma im Auftrag der hannoverschen Verkehrsbetriebe leisten. Schließlich wurde er mit seinen Eltern ins Ghetto nach Riga deportiert, wo die Eltern ermordet wurden. „Hannover ist nun einmal meine Heimat“: So begründete er seine Rückkehr stets.
Hannover ist nun einmal meine Heimat.
Helmut Fürst und andere Gemeindemitglieder waren fest entschlossen, später ihren Lebensabend in Hannover zu verbringen. Deswegen wurde das Altersheim in der Haeckelstraße im Stadtteil Bult 1953 zum ersten Bauprojekt nach dem Neubeginn der jüdischen Gemeinde. „Hier wurden nicht nur Pflegeplätze, sondern auch Wohnungen für das Leben im Alter geschaffen. Das hat sich als zukunftsweisendes Konzept erwiesen“, erklärt Alina Fejgin. Die Diplom-Sozialpädagogin und Supervisorin leitet das Sozialreferat der Jüdischen Gemeinde Hannover und promoviert berufsbegleitend an der Leibniz Universität Hannover im Fach Erwachsenenbildung.
Am 10. November 1963, genau 25 Jahre nach der Zerstörung des Vorgängerbaus an der Roten Reihe, hat die Gemeinde in der Haeckelstraße wieder eine Synagoge eingeweiht: Die erste nach dem Krieg in Deutschland erbaute Synagoge. Zusammen mit dem Altersheim, Büros und Veranstaltungsräumen bildet sie ein jüdisches Zentrum. Der Vorstand der Nachkriegsgemeinde bestand, wie der heutige Vorsitzende Michael Fürst erläutert, aus deutschen Juden. Osteuropäische Gläubige, die die Mehrheit in der Gemeinde darstellten, waren hier unterrepräsentiert. Und doch beeinflusste die orthodoxe Tradition des osteuropäischen Judentums die neuen Gemeinden in Deutschland, die sich als Einheitsgemeinden verstanden, in eine konservative Richtung. „Wir sind offen für alle Strömungen, aber der Kultus ist konservativ“, beschreibt es Michael Fürst. Dazu gehört die Trennung der Geschlechter in der Synagoge: Frauen sitzen auf der Empore, aus der Tora lesen nur Männer. Michael Fürst, der als erster jüdischer Zeitsoldat in der Bundeswehr diente, ist seit über 35 Jahren Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen. In Hannover ist die Freundschaft des Juristen mit dem Vorsitzenden der Palästinensischen Gemeinde Deutschlands, Yazid Shammout, bekannt. Diese Freundschaft hat zu einer Zusammenarbeit der Gemeinden geführt und trägt immer wieder dazu bei, dass die Konflikte des Nahen Ostens nicht unter den jüdischen und muslimischen Bürgern der Landeshauptstadt ausgetragen werden.
Das Ende des Kalten Krieges und die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten veränderten das jüdische Leben in Deutschland von Grund auf. Zwischen 1989 und 2002 verließen mehr als 1,5 Millionen Juden die ehemalige Sowjetunion und ihre Nachfolgestaaten. Die Bundesrepublik nahm bis 2005 mehr als 200.000 Menschen auf. „Es begann damit, dass die DDR in den letzten Jahren ihres Bestehens 5.000 sowjetische Juden aufnahm. Diese Zuwanderer wanderten nach dem Mauerfall in den Westen weiter und holten ihre Familien aus der Sowjetunion nach“, erläutert Michael Fürst. Die jüdischen Familien profitierten vom „Kontingentsflüchtlingsgesetz“ der Bundesrepublik, das vorsieht, im Rahmen internationaler humanitärer Hilfsaktionen eine begrenzte Zahl von Flüchtlingen aus Krisenregionen aufzunehmen. Die Jüdische Gemeinde Hannover wuchs durch die Kontingentflüchtlinge von 379 Mitgliedern im Jahr 1989 auf 4.375 im Jahr 2014 an (Zahlen der Zentralwohlfahrtsstelle für Juden in Deutschland). „Über 90 Prozent unserer Mitglieder sind Zuwanderer oder Kinder von Zuwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion“, sagt Michael Fürst. „Die Zuwanderer mussten ihr Judentum erst kennen lernen“, erklärt Alina Fejgin. In der Sowjetunion war es als „Nationalität“ im Pass vermerkt worden, doch die Religion zu praktizieren war verboten. „Zum ersten Mal in ihrem Leben konnten sie ihr Judentum mit Bedeutung füllen.“
Alina Fejgin leitet den Treffpunkt für Holocaust-Überlebende und ihre Familienangehörigen in der Einheitsgemeinde. Dies war das erste Angebot in Deutschland für russisch stämmige Holocaust-Überlebende. Inzwischen gibt es ähnliche Treffpunkte bundesweit. „In der Sowjetunion konnten sie nicht über ihre Erfahrungen in den Ghettos sprechen“, erklärt Alina Fejgin. „Sie mussten Angst haben, der Kollaboration mit den Deutschen bezichtigt zu werden.“ Im Treffpunkt sind die Traumata der Überlebenden nur selten Thema. Stattdessen bietet Alina Fejgin PC-Kurse für Senioren an, damit sie mit ihren - oft über mehrere Kontinente verstreut lebenden - Familien via Skype in Kontakt bleiben können. Es gibt einen russischsprachigen Gesprächskreis für Demenzkranke und ihre pflegenden Angehörigen und viele andere Aktivitäten, um geistig und körperlich fit zu bleiben. Und wenn die hochbetagten Männer und Frauen ihre traumatischen Erinnerungen teilen möchten, finden sie hier Verständnis - während in den Familien das Thema oft ausgeblendet wird, erklärt Alina Fejgin. „Leichter wäre das falsche Wort“, sagt sie nachdenklich. „Aber ich versuche, ihr Leben etwas fröhlicher zu machen.“
1995: Die Liberale Jüdische Gemeinde Hannover wird gegründet
Durch die Kontingentflüchtlinge wurde es möglich, dass es heute eine Vielfalt an jüdischem Leben in Hannover gibt. „Ohne diese Zuwanderung hätte Hitler gewonnen“, ist Ingrid Wettberg überzeugt. „Die Gemeinden waren überaltert und hätten nicht mehr lange existiert.“ Sie gründete 1995 mit 78 Gleichgesinnten die „Neue Jüdische Gemeinde Hannover e.V.“, die sich später in „Liberale Jüdische Gemeinde Hannover“ umbenannte. Heute ist sie mit über 800 Mitgliedern die größte liberale Gemeinde im deutschsprachigen Raum. „Dies ist ein Ort der Frauenpower“, sagte Prof. Dr. Walter Homolka, der Rektor des Abraham-Geiger-Kollegs an der Universität Potsdam, beim zwanzigsten Jubiläum der Gemeinde - und verneigte sich damit vor den Gründerinnen Ingrid Wettberg, Katarina Seidler und Alisa Bach.
Die Liberale Jüdische Gemeinde Hannover bekennt sich zu den „35 Grundsätzen“ der Union Progressiver Juden in Deutschland. Die Tradition verstehen progressive Juden als fortschreitende Entwicklung, die den Erfordernissen der jeweiligen Zeit angepasst werden muss. Die Schriften gelten nicht als Gottes unveränderliches Wort, sondern als menschlicher Ausdruck religiöser Erfahrung. Männer und Frauen sind in jeder Hinsicht gleichberechtigt. Im Jahr 2007 erwarb die Gemeinde die ehemalige evangelische Gustav-Adolf-Kirche in Hannover-Leinhausen und gestaltete den Gebäudekomplex zum jüdischen Gemeinde-, Bildungs- und Kulturzentrum mit Synagoge, Bibliothek, Kita, Jugendzentrum, Sozial- und Migrationsberatungsstelle um. „Eine Kirche? Das konnte ich mir zunächst nur schwer vorstellen“, erinnert sich Ingrid Wettberg im Bericht zum Jubiläum in der Neuen Presse. „Aber als ich das Gebäude mit seinem schönen Innenhof gesehen habe, hatte ich sofort das Gefühl, hier sind wir sicher, hier sind wir geschützt.“
In der Liberalen Jüdischen Gemeinde sind heute 18 Nationen vertreten. Drei Viertel der Mitglieder haben ihre Wurzeln in der ehemaligen Sowjetunion. Alla Volodarska-Kelmereit ist selbst aus der Ukraine zugewandert. Seit 2001 unterstützt sie als Sozialarbeiterin der Gemeinde Juden dabei, in Hannover heimisch zu werden. „In Deutschland wird Judentum immer als Religion gesehen“, sagt sie. „Dabei ist es viel mehr. Zur Jiddischkeit gehört gar nicht unbedingt, dass man religiös ist.“ Über die Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte haben sich Traditionen in den Familien erhalten, von denen der heutigen Generation oft gar nicht mehr bewusst ist, dass sie auf religiöse Vorschriften zurückgehen.
Judentum ist viel mehr als eine Religion.
Ebenfalls fest verankert in der Familientradition ist oft das Streben nach Bildung. „Die zweite und dritte Generation jüdischer Einwanderer ist musterhaft integriert“, sagt Alina Fejgin von der Einheitsgemeinde. Schwer, fügt sie hinzu, hatten es diejenigen, die mit mehr als fünfzig Jahren in die Bundesrepublik kamen: „Sie waren hoch engagiert und wollten der deutschen Gesellschaft etwas geben. Aber damals meinte man, auf dem Arbeitsmarkt auf ihre Kompetenzen verzichten zu können.“ Trotz gelungener Integration der Zuwanderer: Für die beiden Sozialarbeiterinnen bleibt viel zu tun. Alla Volodarska-Kelmereit nennt das „nachholende Integrationsberatung“. Erst 15, 20 Jahre, nachdem sie in Deutschland angekommen sind, fragen sich viele Zugewanderte: Wie hat es mich geprägt, mein Jüdischsein jahrzehntelang verstecken zu müssen? Was hat es für die Kinder bedeutet, in der alten Heimat alles hinter sich zu lassen? Und wie haben die Traumata der Shoah-Überlebenden die nächste und übernächste Generation geprägt?
„Jetzt bin ich da/trage meine Kippa/Ich wollt sie erst verstecken/doch dann wurde es mir klar:/Hab keine Angst, geh raus/Du erntest viel Applaus“, rappen die jungen Männer und Frauen vom Jugendzentrum „Chai“ der Einheitsgemeinde. Mit dem Lied „Dear Future Deutschland“ sangen und tanzten sie sich auf den zweiten Platz beim „Jewrovision“ 2016, dem Jugendwettbewerb des Zentralrates der Juden in Deutschland. Ihre musikalische Antwort auf antisemitische Anfeindungen: „Wir bleiben hier/egal, was ihr uns sagt.“ Das Selbstbewusstsein und die Identität von jüdischen Jugendlichen zu stärken, ist in der Liberalen Jüdischen Gemeinde der Job von Marianna Brik. „Vom Kindertreff "Nitzanim" für Grundschulkinder bis „Jung und jüdisch“ für Erwachsene bis 35 Jahre gibt es ein lückenloses Angebot für jede Altersgruppe“, sagt sie. In beiden Gemeinden beginnt die religiöse Erziehung schon in einer Kita mit jüdischem Profil.
Die erste blaue Synagoge in Europa: Das jüdisch-bucharisch-sephardische Zentrum
„Mit den Zuwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion kam auch eine Gruppe nach Hannover, unter denen jahrtausendealte Traditionen lebendig geblieben sind - unbeeinflusst vom Christentum“, erklärt der hannoversche Jude Michael Krebs. Er engagiert sich seit dessen Gründung im Jüdisch-Bucharisch-Sefardischen Zentrum. Die Vorfahren der bucharischen Juden sind nach dem Babylonischen Exil im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung bis nach Zentralasien, ins Gebiet des heutigen Usbekistan, Tadschikistan und Kirgisistan gewandert. "Niemand sonst kann seine Tradition so lange zurückverfolgen", sagte Abraham Lehrer vom Zentralrat der Juden in Deutschland anerkennend beim 15. Jubiläum des Zentrums. 1793 fand der marokkanische Gelehrte Josef ben Moses Mamon al-Maghribi den Weg zu den bucharischen Juden. Er führte die Glaubenspraxis der spanischen, „sephardischen“ Juden bei ihnen ein. So entstand die Tradition der jüdisch-bucharisch-sephardischen Gemeinde.
Seit 1997, erzählt Gemeindesprecher Krebs, haben zwei weit verzweigte Familienverbände aus Taschkent und Samarkand in Hannover ein neues Zuhause gefunden. Zunächst trafen sie sich in der Haeckelstraße. 2011 erwarb die junge Gemeinde die ehemalige evangelische Maria-Magdalena-Kirche in Ricklingen. Michael Krebs hat als Architekt den Umbau zur ersten „blauen Synagoge“ in Europa selbst geleitet. „Blau vermittelt ein Gefühl der Verbindung zum Unaussprechlichen“, erklärt er. Traditionell sind orientalische Synagogen daher im leuchtenden Blau des afghanischen Lapislazuli ausgemalt.
Synagogen? Krebs bevorzugt den hebräischen Begriff „Bet ha knesset“ gegenüber dem europäischen Wort „Synagoge“ und „Nusach“ gegenüber „Gottesdienst“. „Wir sind eine praktizierende orthodoxe Gemeinde“, erklärt er. Frauen sitzen, wenn sie am Nusach teilnehmen, auf der Empore. Indem die bucharischen Juden auf Musik beim Nusach verzichten, drücken sie ihre Trauer über die Zerstörung des Tempels in Jerusalem vor fast 2000 Jahren aus. Der Rabbiner Efin Aminov betreut die Gemeinde von Wien aus. Er reist einmal wöchentlich mit seiner Frau nach Hannover, feiert den Sabbat mit den Gläubigen und leitet die Sonntagsschule. Die Gastfreundschaft der Gemeinde ist groß: Am Sabbat und an Feiertagen wird gemeinsam gekocht, Gäste und Reisende bewirtet. „Selbstverständlich führen wir die Küche koscher“, sagt Michael Krebs. Der Maschgiach, der Beauftragte der Gemeinde für die Einhaltung der Speisevorschriften, überwacht das während der Abwesenheit des Rabbiners. Die Gemeinde in Hannover ist mit rund 320 Mitgliedern die größte bucharische Gemeinde in Deutschland. Sie stellt ein Zentrum dar, das Gläubige bundesweit betreut und zum Beispiel Jugendliche in der Diaspora bei der Vorbereitung auf die Bar Mizwa begleitet.
Chanukka auf dem Opernplatz: Die orthodoxe Bewegung Chabad Lubawitsch
Mehr als 1.000 Menschen sind jedes Jahr dabei, wenn von einem Hubsteiger aus die Kerzen des riesigen Chanukka-Leuchters auf dem Opernplatz entzündet werden. Auch heute, weiß Rabbiner Benjamin Wolff, gibt es zahlreiche Juden, die nicht möchten, dass ihr Umfeld von ihrem Jüdischsein erfährt. Nicht zuletzt für sie, erklärt er, hat er gemeinsam mit der Einheitsgemeinde die große Chanukka-Feier ins Leben gerufen: Damit jeder Jude und jede Jüdin in der Anonymität eines öffentlichen Platzes mitfeiern kann. „Unsere Aufgabe ist, das Judentum zu den Juden zu bringen, sie aufzusuchen und zu lehren“, erklärt Wolff. Die orthodoxe Bewegung „Chabad Lubawitsch“ geht auf den 1994 verstorbenen Rabbi Menachem Mendel Schneerson, den „Lubawitscher Rebbe“, zurück. „Heutzutage ist „Chabad“ die aktivste jüdische Bewegung weltweit“, ist Wolff überzeugt.
Die ehemalige Diakoniestation in Hannover-Kleefeld, in der Benjamin und seine Frau Sterna Wolff arbeiten, wird bereits zu eng für die zahlreichen Aktivitäten. Seit Februar 2016 bieten sie mit der „Großtagespflege Gan Shalom“ auch jüdische Erziehung für die Kleinsten an. Das Chabad-Zentrum heißt nicht „Gemeinde“, sondern schlicht „Jüdisches Bildungszentrum“. Denn die Bewegung möchte den bestehenden Gemeinden keine Konkurrenz machen, sondern strebt eine Zusammenarbeit an. Sterna Wolff betreut die Mikwe in der Einheitsgemeinde und leitet dort das bereits erwähnte Jugendzentrum „Chai“. Feste werden gemeinsam gefeiert und Ferienlager für Kinder organisiert.
Dabei steht Chabad Lubawitsch für ein konservativeres Judentum als die Einheitsgemeinde: „Alle 613 Gebote der Tora sind aktuell für heute“, erklärt Wolff. „Sie sind ewige und wahre Werte, die nicht nach der Mode gehen und somit losgelöst von gesellschaftlichen Entwicklungen bestehen.“ Er möchte Juden helfen, die Gebote nicht nur zu befolgen, sondern auch zu verstehen. „Koschere Suppe bekommt man in Hannover nur bei uns und im jüdischen Altersheim“, ist der Rabbiner überzeugt. Wenn er Besucherinnen verabschiedet, entschuldigt er sich höflich dafür, dass er ihnen nicht die Hand reichen kann: Orthodoxe Juden berühren nur die eigene Ehefrau. „An diesem Punkt müssen wir den Jugendlichen deutlich machen, dass in unserer Gemeinde etwas anderes üblich ist“, kommentiert dazu Michael Fürst. Doch die Kooperation hilft beiden Seiten, ergänzt Wolff: Die Einheitsgemeinde hat eine breite Basis - und die Wolffs wissen, wie man junge Menschen begeistert.
Vor ihrer Ankunft in Hannover hat das Ehepaar ein jüdisches Zentrum im ukrainischen Odessa geleitet. In Deutschland kehrt der gebürtige Israeli Wolff zu den Wurzeln seiner Familie zurück: Seine Vorfahren haben fast fünfhundert Jahre lang in Deutschland gelebt. Der Großvater wanderte 1935 nach Palästina aus. Benjamin Wolff führte sein Studium zu Ausbildungsstätten der Chabad-Bewegung rund um den Globus - von Mailand über Bangkok bis Texas. In der deutschen Diaspora, erzählt er, kommen allerdings Aufgaben auf einen Rabbiner zu, von denen er vorher nichts geahnt hat: „Hier stecken unter meinem Hut auch schon mal ein Arzt und ein Psychologe.“
Benjamin Wolff ist derzeit der einzige Vollzeit-Rabbiner in Hannover. Dr. Gábor Lengyel betreut als Senior-Rabbiner die Liberalen Jüdischen Gemeinden in Hannover und Göttingen. Er überlebte als Kind die Shoah im Ghetto von Budapest, seine Mutter und viele andere Familienangehörige wurden ermordet. Lengyel floh aus seiner Heimat Ungarn, nachdem der Volksaufstand 1956 niedergeschlagen wurde. Zeitweise lebte er in Israel, diente in der israelischen Armee und besitzt heute die deutsche und die israelische Staatsanhörigkeit. Lengyel arbeitete als Ingenieur und Manager und hat sich erst nach seiner Pensionierung den Traum erfüllt, am Rabbiner-Seminar in Budapest und am Abraham Geiger Kolleg in Berlin zu studieren.
Heute lehrt er an der Leibniz Universität Hannover und lädt regelmäßig am Judentum interessierte Christen zu „Lehrhausabenden“ ins Haus kirchlicher Dienste ein. Mit der islamischen Theologin Hamideh Mohaghegi hat er 2016 im Haus der Religionen die jüdisch-muslimische Gesprächsreihe „Tora und Qur’an gemeinsam lesen“ begonnen. Er hat selbst die Erfahrung gemacht hat, Flüchtling zu sein, und engagiert sich heute zusammen mit seiner Frau Aniko für Flüchtlinge in Hannover. Syrer und Iraker, sagte er dazu der „Jüdischen Allgemeinen“, gelten eigentlich als Feinde Israels. „Aber sie bedürfen in dieser Situation unserer Solidarität, der Solidarität von Juden und Christen.“ Das Ehepaar Lengyel begleitet die Familien bei Behördengängen und Arztbesuchen, feiert mit ihnen und hilft bei der Wohnungssuche. „Die Juden aus der ehemaligen Sowjetunion haben unsere Gemeinden vor dem Aussterben bewahrt. Werden die Flüchtlinge von heute in ein paar Jahren unsere Gesellschaft auch so bereichern?“ fragte er in seiner Ansprache zum 20. Jubiläum der Gemeinde. Er antwortete direkt selbst: „Ich meine: Ja“.
Jüdische Friedhöfe in Hannover
Zur Infrastruktur einer jüdischen Gemeinde, erklärt Michael Fürst von der Einheitsgemeinde, gehören eine Mikwe, das rituelle Bad, und ein eigener Friedhof. Die Mikwe für Frauen in der Haeckelstraße ist derzeit noch die einzige in Hannover. Im bucharisch-sephardischen Zentrum ist allerdings ein Bad für beide Geschlechter in Planung. Ebenfalls wichtig ist ein eigener Friedhof, so dass die Gläubigen sicher sein können, dass die Verstorbenen für alle Zeit dort ruhen können und die Gräber nicht aufgelassen werden (mehr zum Thema Sterben, Trauer und Jenseitsglaube im Judentum lesen Sie im Kapitel „Gemeinsam die letzten Schritte gehen“).
Bereits Mitte des 16. Jahrhunderts erwarb die kleine jüdische Gemeinde in Hannover einen Sandhügel vor den Toren der Stadt, wo sie ihre Toten beisetzte. Die Stadt ist seitdem um den Friedhof herumgewachsen, der heute an der Oberstraße an der Schwelle zur Nordstadt liegt. Etwa 700 Gräber sind erhalten. Mitte des 19. Jahrhunderts war der Friedhof voll belegt. Die Gemeinde kaufte ein Grundstück weiter stadtauswärts An der Strangriede und beauftragte - wie später auch beim Bau der Synagoge - den prominenten Architekten Edwin Oppler. Die Allgemeine Zeitung des Judentums lobte die Anlage bei ihrer Einweihung 1864 als eine der „schönsten israelitischen Totenstätten Deutschlands“. Schnell war sie allerdings belegt und die Gemeinde eröffnete 1924 den jüdischen Friedhof Bothfeld. Nach Kriegsende wurden hier die Urnen von mehr als 300 jüdischen Shoah-Opfern beigesetzt. Auch diese Begräbnisstätte ist mittlerweile belegt. 2015 kaufte die Einheitsgemeinde einen weiteren Friedhof in der Seelhorst hinzu. Die Liberale Jüdische Gemeinde hat seit 2001 ihre eigene Begräbnisstätte auf dem Stadtfriedhof Lahe. „Wir werden das Gräberfeld von der Stadt erwerben“, kündigt die Vorsitzende Ingrid Wettberg an. So will die Gemeinde das Ewigkeitsrecht für ihre Mitglieder sicherstellen.
In die ehemalige Villa des jüdischen Direktors der Continentalwerke, Siegmund Seligmann, in der Oststadt ist 2012 das Europäische Zentrum für Jüdische Musik (EZJM) eingezogen. Hier werden Noten, Schriften und Tondokumente, die die Shoah überdauert haben, gesammelt und erforscht. Zu seinen Schätzen gehört eine Berliner Synagogenorgel, die der Gründer Andor Izsák in einer rheinland-pfälzischen Kirchengemeinde aufgespürt und aufgekauft hat. Der von Izsák geleitete Europäische Synagogalchor macht die Musik, die zwischen 1810 und 1938 in jüdischen Gottesdiensten erklang, wieder lebendig. „Musik und Gebet sind untrennbar“, sagte Izsák im Deutschlandradio Kultur: „Dazu, dass ich mich als Jude behaupten kann, muss ich musizieren.“
ZUM WEITERLESEN:
Albert Marx, Geschichte der Juden in Niedersachsen, Hannover 1995
Peter Schulze, Juden in Hannover, Hannover 1989