Nusairier in Hannover: Geschichte und Gegenwart
Als Kind hat Sahabeddin Buz ganz schnell gelernt: Ein friedliches Miteinander der Religionen funktioniert, wenn man unter Nachbarn über alles Mögliche spricht, aber nicht über den Glauben. Im türkischen Antakya, das in biblischer Zeit Antiochia hieß, führte ihn sein Schulweg in den 1960er Jahren an einer Moschee, einer Kirche und einer Synagoge vorbei. Der junge Sahabeddin beherzigte den Satz seines Großvaters, des Sheikhs: „Religion ist deine eigene Sache“. Er ließ die Gotteshäuser links und rechts des Weges liegen. Nusairier glauben nicht, dass man Gott, dem ewigen Licht, in einem Gebäude näher sein kann als anderswo. Sie treffen sich an Fest- und Gedenktagen in den Wohnungen derjenigen, die alljährlich diese Feste ausrichten, um zu beten und Suren aus dem Qur‘an zu hören. „Sonst“, erklärt Sahabeddin Buz, „betet man nach einer rituellen Körperreinigung auch im Freien, in Bewegung.“
Im Ramadan musste er allerdings den Schein wahren und fasten wie die sunnitischen Muslime. Über Jahrhunderte haben die Nusairier ihre Religion im Geheimen gelebt. Sie sagen, sie bewahren den eigentlichen, dem unverfälschten Islam, der ihnen durch die Familie des Propheten Muhammad vererbt wurde. Wenn ein Junge in die Pubertät kommt, wird er eingeführt in das Geheimnis. Das ist bis heute so – auch wenn inzwischen diskutiert wird, ob nicht die Zeit reif ist auch Mädchen einzuweihen. Wegen der strengen Reinheitsvorschriften dürfen bisher nur Frauen an den Ritualen teilnehmen, die unverheiratet sind oder die Wechseljahre bereits hinter sich haben. Und auch dann ist ihre Rolle eng umrissen.
Die Nusairier sind auch als arabische Alawiten bekannt – eine Bezeichnung, die vielen lieber ist, da sie nicht mit dem arabischen Wort für Christen, nas,ri-ni-, verwechselt werden kann. Rund 200 nusairische Familien leben in Hannover und im Umland. Sie begehen ihre Rituale und Feste, doch das Gebot der Geheimhaltung existiert weiterhin. Deswegen ist hier keine Adresse zu finden. Mittlerweile hat der „Verband der Alawiten aus dem Ostmittelmeerraum in Niedersachsen e.V.“ ein eigenes Haus: Kein Gotteshaus, sondern ein Haus für die Menschen, in dem oft und gern gefeiert wird. „Wir sind nicht magersüchtig, wird sind magensüchtig“, sagt Sahabeddin Buz und schmunzelt breit unter seinem Schnurrbart.
Ganz selbstverständlich leben Nusairier mit dem Glauben an die Wiedergeburt der Seele. „Mein Großvater war überzeugt davon, dass in mir sein Vater weiterlebt“, erzählt Buz. Gut
für ihn: So brachten ihm schon als Kind die Erwachsenen Respekt entgegen – und ließen ihm eine Menge durchgehen. Ein Onkel war als Arbeitsmigrant nach Deutschland gegangen.
Er war überzeugt: Hier würde der Neffe sicher sein vor der Unruhe, die 1968 die türkischen Universitätsstädte ergriffen hatte. Folgsam studierte Sahabeddin Buz zunächst in Konstanz
und arbeitete danach als Ingenieur. „So wie mein Onkel und ich sind die meisten Alawiten aus der Türkei und Syrien nach Deutschland gekommen: Zum Arbeiten oder zum Studium“, erklärt Buz.
In Hannover entdeckte er seine Berufung, für die Integration von türkischstämmigen Migranten zu kämpfen. Er wurde Sozialarbeiter bei der Stadt Hannover und gründete später mit anderen Pädagogen den Verein CAN ARKADAS‚, der unter anderem Jugendlichen mit Migrationshintergrund durch Musik und Sport Perspektiven aufzeigt. Nach dem Militärputsch in der Türkei sagte er sich öffentlich von der türkischen Staatsbürgerschaft los und verweigerte den Militärdienst in seinem Geburtsland. Das Regime verzieh ihm das nicht: Bei einem Besuch seiner Eltern wurde er festgenommen und saß monatelang im Gefängnis. Schließlich sprach ein Gericht ihn frei, doch er durfte die Türkei nicht verlassen. Daraufhin inszenierte seine Chefin, die stellvertretende Jugendamtsleiterin und spätere niedersächsische Justizministerin Heidi Merk, eine spektakuläre Rettungsaktion mit einer gecharterten Yacht. Buz schwamm ihr von der türkischen Küste aus
entgegen, sie hievte ihn an Bord und brachte ihn in griechische Gewässer in Sicherheit. Der Preis für diese Rettung war hoch: Es dauerte 32 Jahre, bis Sahabeddin Buz wieder türkischen Boden betreten, Familie und Freunde wiedersehen durfte.
2014 wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz für sein Engagement ausgezeichnet. In Hannover ist Sahap Buz eine Institution. Die Kopfnüsse sind gefürchtet, mit denen er – Stirn gegen Stirn – Bekannte irgendwo zwischen schwungvoll und behutsam zu begrüßen pflegt. Er gehört zu den Gründern des Hauses der Religionen – dem Rat seines Großvaters zum Trotz, über Glaubensdinge zu schweigen. Im Ruhestand denkt er über die Tradition seiner Familie nach: Soll er das Erbe seines Großvaters annehmen und Sheikh werden? Mit einem weltlichen Amt verträgt sich diese Würde nicht. Doch er wäre jetzt frei dafür. Sahabeddin Buz erinnert sich an ein Gespräch mit einem Onkel, damals in Antakya. Auch der hatte seine Zweifel am Glauben und zog den Jungen ins Vertrauen, der für alle der wiedergeborene alte Sheikh war. „Den Verstand zu gebrauchen“, sagte er damals dem Onkel und heute zu sich selbst, „ist keine Häresie. Man macht sich Gedanken, um Zweifel auszuräumen und sich zu vervollkommnen.“
ZUM WEITERLESEN:
Laila Prager, Die „Gemeinschaft des Hauses“: Religion, Heiratsstrategien und transnationale Identität türkischer Alawi/Nusairi-Migranten in Deutschland. Berlin / Münster 2010