„Hannover, das sind wir alle“
Die Lichterkette gegen Fremdenhass 1992 war ein wichtiges Ereignis am Anfang des interreligiösen Dialoges in Hannover. Ein Rückblick der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung
Die Organisatoren hatten die Latte hoch gelegt für diesen Sonntag, den 20. Dezember 1992. Sie hofften auf eine eindrucksvolle Demonstration, um auch in Hannover ein starkes Zeichen gegen Fremdenhass zu setzen und eine Lichterkette rund um den kopfsteingepflasterten Opernplatz zu entzünden. Dann begann es zu regnen und es hörte nicht mehr auf. Bald merkten Stadtsuperintendent Hans-Werner Dannowski und Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg erleichtert: Es war den Leuten egal, ob sie unter Schirmen ausharren mussten oder eingehüllt in Regenjacken mit Kapuzen steckten. Sie kamen trotzdem.
Offiziell 120.000 Menschen versammelten sich am 20. Dezember vor 20 Jahren. Sie protestierten „gegen den dumpfen Hass in Deutschland und im Namen seiner Menschen“, wie es in einem Aufruf von 22 Erstunterzeichnern hieß.
„Wir sind eine Stadt – Hannover, das sind wir alle“ lautete sein völkerverständigender Titel. Der Erfolg überraschte wohl alle Beteiligten. In München waren zwei Wochen zuvor 400.000 Bürger gegen Rechtsradikalismus auf die Straße gegangen, aber das war eben das große München. Heute steht fest: Nie wieder seit diesem Tag im Dezember 1992 haben sich so viele Menschen in Hannover zu einer politischen Demonstration eingefunden. Es kamen die ohnehin Überzeugten. Aber wie hätte es ausgesehen, wenn niemand in Hannover und anderswo seine Haltung gegen anscheinend um sich greifende Ausländerfeindlichkeit öffentlich gezeigt hätte?
Den letzten Ausschlag gab ein Mordanschlag im holsteinischen Mölln. Rechtsradikale zündeten zwei Wohnhäuser an, und als das Feuer gelöscht war, fand man drei verkohlte Menschen. Drei Türkinnen, unter ihnen zwei junge Mädchen, kamen in den Flammen um. In ganz Deutschland gingen nun Menschen auf die Straße. Aber schon seit zwei Jahren konnten sich Tausende Flüchtlinge und Ausländer ihres Lebens nicht mehr sicher sein. Ein Tsunami von Fremdenhass schwappte über die Republik. Schon 1991 zählten Behörden Hunderte Überfälle auf Asylbewerberunterkünfte. Immer wieder flüchteten Menschen vor rechtsradikalen Schlägern und Zündlern, manche retteten sich aus Ostdeutschland in westliche Bundesländer – oft nur, um wieder zurückgeschickt zu werden. In Hoyerswerda attackierten Neonazis Unterkünfte von vietnamesischen Arbeitern, und die Polizei sah lange Zeit zu. Das Publikum warf mit Steinen, es glotzte und applaudierte.
Unvergessen bleiben die Bilder von brennenden Plattenbauten in Rostock-Lichtenhagen. Auch hier attackierten Rechtsextremisten ein Flüchtlingswohnheim, erst in letzter Sekunde konnten Männer und Frauen aufs Dach flüchten. Es machte keinen Unterschied, ob Bürgerkriegsflüchtlinge aus Jugoslawien, Familien, die Hungersnöte in afrikanischen Staaten nach Deutschland getrieben hatten, oder Menschen, die seit Langem im Land lebten und arbeiteten: In Deutschland wurden Menschen wegen ihrer Herkunft, Religion und Rasse verfolgt und ermordet. Man konnte nicht sicher sein, wie weit die klammheimliche Freude in Teilen der Bevölkerung reichte. Dann geschah Mölln, und jetzt war es den Anständigen genug.
Und wie schnell plötzlich alles über die Bühne gehen kann, wenn sich nur alle auf ein Ziel verständigen können. Eine Woche vor der Demonstration veröffentlichten Dannowski und Schmalstieg gemeinsam mit weiteren 20 Bürgern verschiedener Nationalität den Aufruf. Jetzt mussten städtische Genehmigungen her, Polizisten und Feuerwehrleute wurden gebraucht, man hatte es bei allem guten Willen immer noch mit Behörden zu tun, mit Versammlungsrecht und Fluchtwegen. Doch alles klappte rechtzeitig. Die Unterstützung für die Kundgebung wuchs schnell, Parteien, Gewerkschaften, Vereine, Verbände, Unternehmen, Schüler und Studenten beteiligten sich. Zeitungen druckten Solidaritätsaufrufe, Hannoversche Allgemeine Zeitung und Neue Presse veröffentlichten das kostenlose Extrablatt „Lichterkette extra“. Manchen in der Stadt war dies alles zu viel. Sie beklagten, dass man zum Mitmachen fast schon gezwungen sei, um nicht als heimlicher Sympathisant des braunen Mobs dazustehen.
In Hannover gab es keine solch brutalen Angriffe wie anderswo in Deutschland. Die Stadt nahm einige Tausend Flüchtlinge auf, sie lebten in Containern, Hotels und Turnhallen, und längst nicht alle Bürger hießen sie willkommen. In einigen Stadtteilen wollten Anwohner und Kleingärtner verhindern, dass die Verwaltung Asylbewerber in ihrer Nähe unterbringt.
Als es einmal doch einen, gescheiterten – Brandanschlag gab, fürchteten Gewerkschafter, dass es weitere Versuche geben könnte. Sie gründeten das Telefonnetzwerk „SOS Rassismus“, um sich im Notfall gegenseitig warnen zu können. Im Rat stritten Politiker, ob das hannoversche Boot voll ist oder nicht.
Demonstrationen und Anschläge spielten sich vor dem Hintergrund einer Debatte ab, die auf eine Änderung des Asylgesetzes zielte. Der Bundestag wollte Einreisevorschriften für Deutschland verschärfen, wie viele andere europäische Staaten auch: Ins Land sollte nur noch dürfen, wer nicht zuvor in einem sicheren Drittland gewesen war. Eine umstrittene Regelung, die etwa Niedersachsens damalige Justizministerin Heidi Alm-Merk scharf attackierte. Den Organisatoren der Lichterkette gelang es, dieses heikle Thema aus ihrer Veranstaltung am Opernplatz herauszuhalten. Damit hielten sie Parteipolitik fern, was die Zahl der Teilnehmer letztlich erhöht haben dürfte.
Insa Becker-Wook vom Stadtkirchenverband war damals die erste auf dem noch leeren Opernplatz. Sie war eine der Organisatorinnen. Sie erinnert sich, wie zu Beginn wenig los war, noch eine Stunde vor Beginn sah es nach einem Flop aus. Dann, eine halbe Stunde vor Beginn um 18 Uhr, strömten die Leute doch Richtung Opernplatz. Es gab Schweigeminuten für die Opfer der Überfälle. Für den Verein Netzwerk sagte Hartwig Heine, mit der Lichterkette wolle man „ein Zeichen für ein friedliches Zusammenleben setzen“.
Mit Insa Becker-Wook blieben bis zum Schluss einige Pfadfinder: Sie bewachten aus Kerzen geformte Lichterinseln. „Das war ein großes Gemeinschaftsgefühl, die Lichterkette gehört zur Stadtgeschichte“, sagt sie im Rückblick. Hannover hatte sein Zeichen gegen Fremdenhass und Rechtsradikalismus gesetzt.
Mit dabei waren auch Gerhard Schröder und seine damalige Ehefrau Hiltrud. Der Ministerpräsident fragte sich, ob „wir uns rechtzeitig gegen die aufkommende und sichtbare Gefahr von rechts mit der notwendigen Entschiedenheit zur Wehr gesetzt haben“. In kleinem Maßstab überlebte die Lichterkette. Noch drei weitere Jahre trafen sich Bürger jeweils am vierten Advent an sogenannten „Orten der Toleranz“. Doch es kamen noch jeweils ein paar hundert.
Dennoch: Insa Becker-Wook sieht heute eine völlig veränderte Situation. „Das Zusammenleben ist viel toleranter geworden. Wir wissen viel mehr über andere Kulturen und Religionen.“ [...]
Gunnar Menkens, Hannoversche Allgemeine Zeitung, 20.12.2012